
Schärenkreuzer: Die Sache mit der Segelfläche
Im Unterschied zu anderen Bootstypen werden klassische Schärenkreuzer und ihre Nachfolger zum Tourensegeln nicht anhand der Länge oder einer Formel, sondern der Segelfläche bezeichnet. So steht die 15 beispielsweise für die kleinste 15 Quadratmeter Klasse, die 22 für die 22er und so weiter. Ist die Typbezeichnung wie im obigen Foto eines 30ers unterstrichen, handelt es sich um ein vermessenes, somit zu Regatten zugelassenes Boot. Auf den ersten Blick ist die Sache mit der Segelfläche beim Schärenkreuzer also einfach.
Die nominelle Segelfläche
Wie kommt nun diese Zahl zustande? Wie bei den Meterklassen der 1906 vereinbarten International Rule werden das Großsegel und 85 Prozent des Vorsegeldreiecks berücksichtigt. Das entsprach zunächst, als die meiste Segelfläche im Groß steckte und der Rest in der Vorflügel-artig kleinen Fock, annähernd der realen Besegelung. Dennoch hat die Fock natürlich mehr Tuch als 85 Prozent des Vorsegeldreiecks. So gibt es neben der nominellen Segelfläche noch eine weitere, die reale.
Die tatsächliche Besegelung
Bekanntlich ist der Ehrgeiz von Regattaseglern groß. So brachte der schwedische Reeder Sven Salén 1926 zum Coppa del Tirreno ein deutlich größeres Vorsegel als die bis dahin bekannte Fock auf seiner 6 mR Rennyacht May Be nach Genua mit. Seitlich am Mast vorbei gezogen vergrößert sie die Am Wind-Besegelung ungeachtet der beschriebenen Segelvermessung enorm. Denn wie geschildert berücksichtigt die Vermessung lediglich einen Teil des Vorsegeldreiecks und nicht die tatsächliche Fläche.
Damit lief es bei den Regatten vor Genua bereits bei einem Hauch von Wind. Im Jahr darauf setzte Salén sein neues Segel beim Scandinavian Gold Cup in der amerikanischen Oyster Bay. 1930 war die amerikanische Seglerin Elisabeth Hovey an Bord ihres 30 qm Schärenkreuzers Oriole II vor Marblehead ebenfalls mit diesem Leichtwindsegel unterwegs. Bemerkenswert an diesem historischen Foto ist auch, dass sie steuerte und die beiden Burschen sich um die Vorschot kümmerten.

Bald brachte Hovey das Segel zu den Schärenkreuzerregatten nach Kiel mit, wo sie es abends sicherheitshalber immer von Bord nahm. Die Genua war so interessant, dass die Flächen von Groß- und Vorsegel beim Schärenkreuzer nun neu austariert wurden. Denn die mit Faktor 0,85 berücksichtigte Vorsegelfläche ließ sich nun zulasten des mit dem Faktor 1 berücksichtigten Großsegels deutlich vergrößern. Das Vorstag wanderte nach vorne und wurde höher am Mast befestigt, was nochmals Fläche brachte. 1935 wurde daraufhin die sogenannte Vorsegelhöhe, gemeint ist der Anschlagpunkt des Vorstags am Mast, auf 70 Prozent der Großsegelhöhe begrenzt.
Die Finessen der Genua beim Schärenkreuzer
Dennoch wurde in Leichtwindrevieren wie den alpennahen Gewässern die Genua immer größer und unverzichtbar. Bei vielen Dreißiger Schärenkreuzern ist sie längst ein gleichschenkliges Dreieck mit enormer Unterliekslänge. Das Schothorn wird bis hinter den Steuermann dichtgeholt. Wie der schwedische Schärenkreuzerspezialist Olle Madebrink im Buch The World of Square Metres beschreibt, hat die Genua weitreichende Folgen für den klassischen Schärenkreuzer.
Denn das Boot war nun stärker “motorisiert” und konnte zugunsten der Geschwindigkeit verlängert werden. Das zusätzliche Gewicht infolge der Länge wurde angesichts der gewonnenen Segelfläche in Kauf genommen. Aufschlußreich und ein Thema für sich in diesem Zusammenhang ist das sogenannte Längenmaß der Schärenkreuzer-Vermessung. Es wird beim 30er Schärenkreuzer 18 cm über der Wasserlinie abgenommen. Es wuchs 1929 bis ’52 von knapp 9 auf etwa 10 1/2 Meter und steigerte die Rumpfgeschwindigkeit von sieben auf acht Knoten.

54 statt 30 qm Segelfläche beim Dreißiger
Die geometrische Besegelung über dem flachbordig eleganten Rumpf ist sehenswert. Allerdings hat die enorm große Genua auch Nachteile. Unter Strömungsgesichtspunkten wäre ein schlank und hoch geschnittenes Segel besser. Die Genua ist unhandlich. Sie ist verschleißträchtig und teuer. Und sie limitiert den Regattasegler taktisch. Jede Wende mit diesem Tuch bremst, weil es dauert, bis das Boot nach dem Dichtholen des langen Unterlieks wieder in Fahrt kommt.
Versierte Schärenkreuzersegler überlegen sich daher ihre Wenden und Kurse über die Regattabahn gut. Und die Sicht ist derart eingeschränkt, dass manche Genua für den wünschenswerten Durchblick sogar zwei Fenster hat. Man möchte doch wissen, ob einer kommt und was die Anderen gerade machen.
Wie der Lindauer Segelmacher Markus Rösch berichtet, ist ein Bodensee-typischer 30 qm Schärenkreuzer vom Typ Bijou tatsächlich mit 54 statt 30 Quadratmetern am Wind unterwegs. So ist das mit der Segelfläche beim Schärenkreuzer. Auf den ersten Blick einfach, auf den zweiten so speziell wie die Bootsklasse.
Foto oben von Ulli Seer: 30er Dreamtime bei der Chiemsee-Classic Regatta