75 qm Schärenkreuzer Gustaf

Dieser fast 18 Meter lange Daysailer ist derart antiquiert, dass es sich auf den ersten Blick um eine nachträglich kolorierte schwarz-weiße Ansicht vergangener Zeiten zu handeln scheint. Das Boot ist jedoch real, nicht restauriert, sondern ein Neubau von 2017. Herrlich von gestern ist auch die Segelgeometrie.

Vor- und Großsegelflächen beim 75 qm Schärenkreuzer Gustaf

Drei Viertel der Segelfläche von Gustaf stecken im Großsegel, der Rest in der Vorflügel-artig kleinen Fock. So war es in den Zwanzigerjahren üblich, als das Boot entworfen wurde. Heute sind die Flächen anders austariert. Beim etwas kürzeren 55er-Touren Schärenkreuzer Swede 55 beispielsweise, einer Konstruktion von 1975, liegt das Verhältnis von Großsegel zu Fock bei 60/40.

So ist bei Swede 55 die 30 qm Fock bereits ab 4 1⁄2 Windstärken durch eine kleinere 20 qm Starkwindfock zu ersetzen. Bei zunehmendem Wind wird bei Gustaf das Groß gerefft, während das Boot mit der kleinen Fock unbeirrt durch dick und dünn fährt. Ein Vorsegelwechsel wird selten nötig sein. Das ist der Vorteil von 75/25 gegenüber 60/40.

Umgeben von einem geschwungenen Süllrand steht der Mast in einer Aussparung zwischen Kajütaufbau und Vorluk, dem sogenannten Mastgarten. Eine selten zu sehendes Detail einer fast vergessenen Ära, als Yachten zum Segeln und Angucken gedachte, bezaubernde Kreationen waren: flachbordig, elegant und aus dem schönsten Bootsbaumaterial überhaupt, Holz.

Kurze Vorsegelbasis mit Vorstag fast auf halber Strecke zwischen Bug und Mast
Kurze Vorsegelbasis mit Vorstag fast auf halber Strecke zwischen Bug und Mast – Foto Anette Bengelsdorf

Wunderbar, dass bei diesem Neubau die heute übliche Komfortbesessenheit an Land blieb. Zur Wohnlichkeit unter Deck reichen ein U-förmiger Salon vor dem Hauptschott, zwei Schränke und eine Lotsenkoje neben dem Niedergang. Obwohl die Bequemlichkeitsbedürfnisse in den vergangenen Jahrzehnten unübersehbar zugenommen haben, gibt es heute noch Segler, denen das langt.

So entstand Gustaf mit den seinerzeit üblichen Zugeständnissen an menschliche Bedürfnisse wie Stehhöhe unter dem gewölbten Dach, Sitz- und Schlafgelegenheit an Bord. Die Schärenkreuzer-Regel von 1925 enthielt damals Wohnlichkeitsvorschriften, die an Bord soeben erfüllt werden. Gemäß Per Thelanders Buch Alla våra Skärgårdskryssare (Alle unsere Schärenkreuzer) von 1991 ist Gustaf der erste Neubau einer 75er Schäre seit Bacchant II von 1936. Das stimmt nicht ganz, denn meines Wissens entstanden in den Vierzigerjahren mit Nemere und Scirocco in Ungarn zwei weitere 75er für den Plattensee.

Der bis 2017 unverwirklichte Entwurf stammt vom erfolgreichen Regattasegler und Schärenkreuzerkonstrukteur Gustaf A. Estlander (1876 – 1930). Estlander war damals an der Papst Werft in Berlin-Köpenick beteiligt, wo 1921 bereits die etwas kürzere Trumph (17,40 × 2,55 m) nach der vorherigen Schärenkreuzerregel von 1920 entstanden war. Das neue Regelwerk von 1925 verlangte etwas breitere, stabilere und auch schwerere Boote.

Klassischer Holzbootsbau in der Machart der Zwanzigerjahre mit den Möglichkeiten und Können von heute
Klassischer Holzbootsbau in der Machart der Zwanzigerjahre mit den Möglichkeiten und Können von heute – Foto Anette Bengelsdorf

Nach dem Abklingen der Schärenkreuzerbegeisterung für die zuvor gefragten 40er im Deutschen Reich und dem Brand der Werft übersiedelte Estlander nach Stockholm. Die Pläne für dieses Boot wurden lange vergessen. Auf der Suche nach einem sehens- und segelnswerten Schärenkreuzer machte Juliane Hempel, eine auf Klassiker und Schärenkreuzer spezialisierte Yachtkonstukteurin, den Eigner und die Werft auf den Entwurf aufmerksam. 90 Jahre nach der Konstruktion standen die filigranen Planken im Sommer 17 vor der Halle der Martin Werft in Radolfzell am Bodensee.

Nach 1 1/2-jähriger Bauzeit ist Gustaf fertig zum Einwassern
Nach 1 1/2-jähriger Bauzeit fertig zum Einwassern – Foto Anette Bengelsdorf

Das heikle Thema Gewicht

Das Boot wurde als klassischer Schärenkreuzer gemäß den weltweit gültigen Vorschriften des Svenska Skärgårdskryssareförbundet (SSKF) vermessen. Wie Hempel berichtet, war der Bau des Bootes anspruchsvoll. Denn als ehrgeiziger Konstrukteur hatte Estlander es zugunsten der Segeleigenschaften bis ans Limit, also so schlank wie möglich gezeichnet. Dabei waren vermessungsseitig verlangte Mindestmaße und unbedingt das Gewicht einzuhalten. Hinzu kam der damals nicht vorgesehene Elektromotor, die dazu erforderlichen beiden Lithium-Batterien und Welle samt Propeller, überschlägig etwa 200 Kilo. Nun verträgt ein schlankes und leichtes Boot praktisch keine Zuladung. Liegt es tiefer als gedacht im Wasser, streckt sich das an der Wasserlinie orientierte Längenmaß und es wird nicht als Schärenkreuzer vermessen.

So wurde der aus fünf Zeichnungen bestehende Estlandersche Vorentwurf von Juliane Hempel komplett in 3D nach und somit neu konstruiert. Hinzu kamen die Baupläne, insgesamt 65 Zeichnungen. Allerhand Arbeit, die überschlägig ein halbes Jahr in Anspruch nahm. Das hielt die Ungewissheit, ob das maßhaltig zu bauende Boot am Schluss vermessungsfähig wird, zumindest im Rahmen. Dennoch blieb die Sorge bis zum Schluss. Hempel, Bootsbauer Josef Martin und seine Kollegen erwarteten die Erstwasserung der Yacht mit Bangen, weil sich die Berechnungen erst anhand der tatsächlichen Schwimmlage analog bestätigen. Zur großen Erleichterung zeigte sich dann, dass Gustaf wie gezeichnet schwimmt.

Estlanders deutsch beschriftete Bauzeichnung von Anno 1927
Estlanders deutsch beschriftete Bauzeichnung von Anno 1927

Bemerkenswert ist auch die traditionelle Bauweise. Es handelt sich wie früher um einen Mix aus Mahagoniplanken über abwechselnd montierten Holz- und Stahlspanten, wobei die Holzspanten aus schichtweise verleimten (lamellierten) Akazienstreifen bestehen. 60 Stück davon halten das Boot gemeinsam mit den Stahlspanten in Form. Die Stahlspanten sind Winkelprofile aus Edelstahl, die mittschiffs in der Bilge, entlang des Vor- und Achterstevens mit zusätzlichen Blechen ausgesteift sind.

Die Sache mit der Sponung

Anspruchsvoll beim klassisch geplankten Holzbootsbau ist die Präzision, mit der die Planken auf den Spanten sitzen müssen. Sie entscheidet über die Festigkeit des Rumpfes und auch die Frage, ob er auf Dauer dicht und ansehnlich bleibt. Früher wurde das mit Haftreibung zwischen den Planken und Kalfat erreicht. Heute sind die Planken mit Epoxidharz verklebt. Das ergibt einen homogenen und besonders belastbaren Rumpf.

Intarsienartige Präzision

Es braucht einige handwerkliche Praxis, damit die Planken fugenlos vorn im Vorsteven und achtern im Heckbalken und am Spiegel enden. Jedes Plankenende muss exakt in der vorgesehenen Aussparung, Sponung genannt, sitzen. Dazu benötigt jedes Plankenende genau den richtigen, jedes Mal anderen Winkel. Wurde eine Planke über die Länge im falschen Winkel gehobelt oder am Ende ungenau zugeschnitten, muss der Bootsbauer sie beiseitelegen und fängt noch einmal komplett von vorn an. Das ist der Grund, warum klassischer Holzbootsbau dieser Güte kaum, wie andernorts praktiziert, mit Lehrlingen gelingt. Wird der Rumpf abschließend farbig lackiert, lassen sich die Lücken mit Epoxidharz schließen und die gespachtelte Stelle beischleifen. Nun ist Gustaf ein richtiges, ein natur lackiertes Holzboot, wo der fugenlose Sitz jeder Planke mit intarsienartiger Präzision Voraussetzung für das Finish ist.

Bange erwarteter Augenblick in Radolfzell. Wird Gustaf auf dem gemalten Wasserpaß schwimmen?
Bange erwarteter Augenblick in Radolfzell. Wird Gustaf auf dem gemalten Wasserpaß schwimmen? – Foto Anette Bengeldorf

Die Ausstattung des Bootes ist ein Mix aus ansehnlichen Lösungen wie dem Spruce Rigg, einer modernen und laut North Sails besonders profilstabilen 3Di Segelgarderobe. Ihr Farbton erinnert ein wenig an den Baumwoll-Look alter Tücher.

Geht gut an den Wind. Gustaf im Sommer 2017 auf dem Untersee
Geht gut an den Wind. Gustaf im Sommer 2017 auf dem Untersee – Foto Anette Bengelsdorf

Abschließend noch einmal ein Blick auf das Gewicht des Bootes. Die Verdrängung ist zwar eine von vielen Zahlen, hat als meist übersehenes Detail jedoch gravierende Folgen für den Ballastanteil und die Segeleigenschaften. Geriet das Boot tatsächlich so schwer wie gezeichnet, bewegt die Segelfläche die vorgesehene Verdrängung statt etwa einer halben bis 3/4 Tonne zusätzlich. Das ist bei leichtem Wind eine schöne Sache.

Über 50 Prozent Ballastanteil

Interessant ist in diesem Zusammenhang auch der Ballastanteil. Er liegt laut Werftangaben beim leeren Boot ohne Crew und weiterer Zuladung bei annähernd 51 Prozent. So erinnert Gustaf an das puristische Konzept des klassischen Schärenkreuzers als Regattaboot von Anno 1927 und seinen Konstrukteur Gustaf Estlander, dessen Arbeit Knud Reimers ab 1930 in Stockholm mit schönen Booten fortgesetzt hat. Es erinnert auch an ein in dieser Perfektion selten beherrschtes Handwerk.

Der 75er Schärenkreuzer Gustaf 2017 auf dem Untersee
Später Tribut an Gustaf A. Estlander – Foto Anette Bengelsdorf
Daten 75er Schärenkreuzer Gustaf

Länge17,73 m
Länge Wasserlinie11,85 m
Breite2,70 m
Tiefgang2,10 m
Gewicht8.125 kg
Ballast4.120 kg
vermessene Segelfläche (Großsegeldreieck + 85 % Vorsegeldreieck)75 qm
Fock22,40 qm
Großsegel55,95 qm
Elektromotor von Kräutler mit Welle8 kW/ ≈ 6 PS
Yacht und Bootswerft Josef Martin Radolfzell 2016-17

Dank an Anette Bengeldorf/Friedrichshafen für die Informationen zum Boot und Erlaubnis zur Veröffentlichung ihrer Fotos. Bestellen Sie hier den Newsletter, und Sie verpassen keine neuen Artikel.