30er Schärenkreuzer Dreamtime

Eine Geschichte über eine Insel im Bayrischen Meer und glückendes amphibisches Leben mit einem Alfred Mylne Schärenkreuzer von 1929.

Der Süddeutsche Outdoor und Segelfotograf Ulli Seer fand durch die elterliche Ferienwohnung auf der Fraueninsel im Chiemsee zum Thema seines Lebens. Als Fünfjähriger takelte er ein Ruderboot mit einer Zeltplane als Segel auf, wagte sich in einer lokalen Bootsklasse wie dem sogenannten „Chiemsee-Schratz“ weiter raus. Er bretterte in den Siebzigerjahren im Korsar über die Regattabahnen.

Anfang der Achtzigerjahre war Seer so klug, seine Begeisterung für das Leben im und am Wasser zugunsten des Berufs, Frau und drei Kindern, mit einem behäbigen Jollenkreuzer noch ein wenig zu bremsen. Das ist nicht selbstverständlich, weil die im Märklin-Idyll der Gegend gelegene Fraueninsel mehr als ein romantisches Fleckerl Erde ist, wie es die Fremdenverkehrswerbung zutreffend beschreibt. Auch außerhalb des mächtigen Klosters ist das Eiland in seiner Jenseitigkeit ein Ort, an dem es zur dauerhaften Horizontverschiebung kommen kann. Es ist so schön dort, dass man die üblichen Landlebenspflichten vergisst.

Wie Seer an der „Argo V“ vorbeischrammte

In diesem Idyll wurde Seer mit einer der schönsten schwimmenden Skulpturen des Bayernmeeres groß, dem 40 Quadratmeter Schärenkreuzer „Argo V“. Das flachbordige Geschoss ist etwa 15 m lang und richtig schmal. Ein extremes Exemplar der ursprünglich schwedischen Bootsklasse. Der finnische Architekt, Bootskonstrukteur und ehrgeizige Regattasegler Gustav Estlander hatte das Thema 1924 auf die Spitze getrieben. Die schwimmende Extravaganz lag an einer Boje in Sichtweite der elterlichen Ferienwohnung. „Irgendwann einmal werde ich solch ein Schiff segeln“ ahnte Seer damals.

Ende der Achtzigerjahre war es so weit. Der langjährige Besitzer Erwin Ludescher war verstorben und die Angehörigen hatten das bedenklich leckende Gefährt vorsichtshalber bergen lassen. Das Boot stand „aufgebahrt“ in einer Halle. Die Erinnerungen aus verblichener Jugend an den intakten Renner schoben sich in Seers Kopf tückisch vor die Realität des morschen Gebälks. Gefährlich war auch der lockende Preis.

Die Sicherungen waren bei Seer schon draußen, als er den Bootsbauer Bepp Heistracher um Rat fragt. „Lass’ die Finger davon, das ist ein Fass ohne Boden“. Solche geradlinigen Handwerker gibt es, die dem Liebhaber und Träumer in gebotener Klarheit einschenken und den Horizont wieder geraderücken. Die kostspielige und zeitraubende Sanierung passte nicht in Seers Gesamtlebenskunstwerk als Freiberufler und Familienvater. Der Traum von einem hinreißenden Segelboot für das Bayrische Meer blieb.

Nach einer Weile tapferen Wartens wurde Seer im Sommer 90 am Bodensee auf einen 30 Quadratmeter Schärenkreuzer aufmerksam. Er war kürzer, etwas breiter und damit insgesamt eine Idee vernünftiger als Seers Jugendliebe „Argo V“. Ein vergleichsweise handliches Gefährt aus klar lackiertem Mahagoni, mit einem weißen Dach in der vergessenen Machart alter Leinen-bespannter Kajüten. Dazu kleine Bullaugen und ein Fach zur Ablage der Leinen zwischen Vorluk und Kajüte, der sogenannte Mastgarten.

„Fotografen sind Leute, die wahrnehmen, was auch andere Menschen sehen könnten, wenn sie richtig hinschauen würden.“ Ulli Seer

Mahagoni von Anno 1929 – Foto Ulli Seer

Ein Gefährt mit musealem Charme. Seer erlag ihm augenblicklich. Es hieß „Elch“ und es hatte den entscheidenden Vorzug, dass er angesichts der Bürde absehbarer Instandsetzungsmaßnahmen und alljährlicher Pflege damit zwar in die Knie gehen, aber nicht absaufen würde. Ein traditionell aus waagerechten Planken über senkrechten Spanten gebautes Boot ist im Grunde ein Parallelogramm, dessen Bauteile im Laufe der Jahrzehnte etwas Spiel bekommen. Sie verschieben sich unmerklich und lassen Wasser herein, bis man vor lauter Pumpen nicht mehr zum Segeln kommt.

Allein der Tod des vorigen Eigners namens Häusler hatte die während unzähliger Segelsommer gelebte Symbiose zwischen ihm und Boot beenden können. Sie hatte 55 Jahre gedauert. Ein größeres Kompliment für Segelspielzeug lässt sich kaum denken. Auch kam es aus einem guten Stall. Es handelte sich um ein Exemplar der angesehenen Werft Abeking & Rasmussen, wo am linken Weserufer in Lemwerder bei Bremen weltweit gefragte Holzboote entstanden. Werftinhaber Henry Rasmussen berichtete in seinen Memoiren „Yachten, Segler und eine Werft“ über das Jahr 1929: „Ein interessanter Bau war auch der Schärenkreuzer „Pasch“ meines Freundes Erich F. Laeisz, Hamburg. Da Herr Laeisz ein großer Förderer der Schärenkreuzer war und gern experimentierte, kamen wir überein, unseren beiderseitigen Freund Alfred Mylne einen 30er zeichnen zu lassen. Um Mylne in die ganze Schärenkreuzer-Materie einzuweihen, sandte ich ihm meine neuesten Risse. Die Konstruktion von Herrn Mylne hatte viel Ähnlichkeit mit meinen Booten, war in vielem aber doch wieder anders, mehr für englische Verhältnisse zugeschnitten, mit geradem Mast und größerer Verdrängung.“

Der Hamburger Reeder Laeisz war damals in der glücklichen Lage, sich ungebremst von lästigen Sachzwängen wie Budget- und Zeitfragen der Parallelwelt intensiv ausgeübtem Segelsports widmen zu können. Er lebte gediegen an der Hamburger Außenalster, seinerzeit eine noble außerstädtische Adresse, beinahe wie es die Fraueninsel ist. Die Horizontverschiebung ging damals so weit, dass Laeisz sich nahezu jährlich eine vielversprechende Rennyacht bauen ließ, sie auf der Alster, auf der Kieler Förde oder zur Abwechslung auch mal in den Staaten vor Long Island segelte. Der Schärenkreuzer war damals Avantgarde. Eine Marotte der Familie Laeisz war es, ihren Schiffen einen mit „P“ beginnenden Namen zu geben. Die besegelten Frachtschiffe der Reederei, wie beispielsweise die „Padua“ (heute „Kruzenstern“), die „Passat“ (Museumsschiff in Travemünde) oder die „Peking“ (für den Hamburger Hafen hergerichtet) wurden daher P-Liner genannt. Der Tatsache, dass sie schnelle Reisen absolvieren, verdankten sie den Namen Flying P-Liner. Diesen Namensgebungsbrauch setzte Laeisz privat mit „Pasch“ fort. Das nächste Boot von Herrn Laeisz hieß dann „Pan“.

Seit einigen Jahrzehnten ist nun Familie Seer mit der ehemaligen „Pasch“ auf der Reibfläche von Wind und Wasser unterwegs. Am liebsten bei Hochdruckwetterlage, wenn eine gleichmäßige Ostwindthermik nachmittags eine köstlich konstante Brise über das bayrische Meer schickt und ein seglerisches Nirwana beschert.

Dann preschen die maronenbraunen Planken dem Alpenpanorama mit Hochplatte und Kampenwand entgegen. Sollte an heißen Sommertagen aber die Luft stehen, hängt die australische Fahne schlapp am Heck. Dann dient die „Dreamtime“ mit Kühlbox für den Weißwein und Fresskorb als Badeplattfrom. Der blaue Southern Cross erinnert an die australische Herkunft von Ehefrau Jill. In seinen „Songlines“ hat Bruce Chatwin die Wanderschaft der Aborigines anstelle der Sesshaftigkeit als ideale Lebensform, als „Dreamtime“ beschrieben. So passt der Bootsname zur schönen Auszeit auf dem bayrischen Meer. Seers Töchter Nicola, Daniela und Sohn Benny wuchsen mit dem Boot auf.

Vor einer Weile übersiedelten die Seers vom trubeligen München zur Ratzinger Höhe oberhalb vom Chiemsee. So ist Weg zum Bootssteg in der Kailbacher Bucht kürzer, wo das Schiff geschützt vor den Gewitter- und Südstürmen liegt. Wenn außer Seer mal keiner Zeit hat, geht er mit „Linoo“ an Bord, einem Pointer Mischling, den seine Tochter Nicola mal aus Griechenland mitgebracht hat.

„Er ist schon zweimal über Bord gefallen. Aber ich habe ihn immer gepackt und ins Boot gehoben.“ Der Bursche bedankt sich auf seine Weise, indem er gelegentlich Ankerwache geht. Ob er nur fürs Foto aufmerksam aufs Wasser guckt, es sich ansonsten zwischen den Süllrändern im Mastgarten gemütlich macht, weiß allein er.

30 qm Schärenkreuzer „Dreamtime“, ex „Elch“, ex „Pasch“: Abeking & Rasmussen Baunummer 2526, Konstruktion Alfred Mylne, Baujahr 1929, Länge 11,49 m, Wasserlinie 7,56 m, Breite 2 m, Tiefgang 1,42 m. Henry Rasmussen erinnert das Boot auf Seite 199 in seinen Memoiren „Yachten, Segler und eine Werft“.

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