
75er Schärenkreuzer Gun
Eine Schwärmerei für dieses ursprünglich schwedische, vorübergehend finnische, seit einer Weile schweizerische Exemplar der 75 m2 Schärenkreuzer Klasse von 1918. Wie Gun ihre achtköpfige Eignergemeinschaft beschäftigt und Augenmenschen am Bodensee beglückt.
Fangen wir mit einem sehenswert seltenen Detail an, diesem halbrund gewölbten Kajütdach aus kastanienbraunem Mahagoni. Daheim erschiene das glänzend lackierte Möbel als Omas Wohnzimmerschrank vielleicht spießig und verpönt. Unter freiem Himmel ist es angesichts der alljährlichen Schleif- und Lackierfron auf den ersten Blick unpraktisch wie das Deck aus honigfarbener Douglasie. Die Planken stehen glänzend im Lack, damit das Wasser auf den Flächen abperlt, statt ins Holz einzudringen und unschöne dunkle Flecken hinterlässt. Man betritt so etwas gedanklich in Museumspuschen, sicherheitshalber ist barfuß besser. Oder mit klinisch sauberen Bootsschuhen, der maritimen Variante der Stoppersocke.
75 m2 Zweiweltenkreuzer
Doch so ist das Leben, sofern es nach kulturellen Gesichtspunkten geführt wird. Es ist nicht vordergründig zweckmäßig, dafür ein wenig dem Gewöhnlichen abgerungen und entsprechend selten. Doch wer interessiert sich angesichts Gun noch für übliche, alljährlich als „Weltneuheit“ angepriesene praktische Schwimmware, wie sie üblicherweise beim Bootshändler oder auf dem Messestand steht? Und wer guckt sich solche Erzeugnisse morgen noch an, geschweige denn in hundert Jahren?
Boote sind vordergründig zum Segeln, eigentlich aber zum Anschauen da. Soweit die Sargassomeerartige Apathie eines typisch windstillen Bodenseesommers irgendeinen Sinn hat, dann diesen. Offenbar hat der Schöpfer für schwedische und alpennahe Gewässer die Flaute erfunden. Die Einheimischen sollen mit ansehnlich auf dem Wasser schwebenden Booten das Beste daraus machen. Moderne Outdoormenschen, die ungern zu Hause bleiben, sollen auf dem Wasser mal zur Ruhe kommen, gucken und genießen. Da schweift der Blick wie bei Oma daheim zum Puppenstuben-Idyll mit dem antiquiert halbrunden Kajütdach aus maronenbraunem Mahagoni mit kleinen Bullaugen.
Sollte sich wider Erwarten doch noch eine Brise auf der Reibfläche von Wind und Wasser auf dem leicht geschuppten Lago zeigen und die Schultern des Spinnakers heben, dann folgt die eigentliche Sensation dieses Zweiweltenkreuzers. Nämlich, was die gestreckten Planken der Leichtwindmühle daraus machen. Welche Barbaren kamen eigentlich auf die Idee, Boote anders als vor gut hundert Jahren zu bauen? Anders als Gun, diesen 75er Schärenkreuzer, der im Frühjahr 1918 auf der Helling der unvergessenen Hästholmswerft auf der Insel Lidingö nordöstlich von Stockholm stand? Dieser Betrieb existierte zwar nur von 1910 bis 51. Seine Erzeugnisse aber bleiben, weil sich seit damals Augenmenschen für sie begeistern und erhalten.

Damals wurden 6 Tonnen Mahagoni, Eiche, helle Douglasie und Blei aus dem Schuppen ins Freie geschoben, zu Wasser gelassen und zunächst mit einem kurzen Mast zum Setzen der Steilgaffel aufgetakelt.

So war es damals, im ersten Jahrzehnt seit der Premiere des 1908 erfundenen Schärenkreuzers zum Schön- und Schnellsegeln üblich. Die meiste Segelfläche steckte im Großsegel, dessen Steilgaffel die Vogelschwingen artige Form schon andeutete, wie sie sich bald beim Schärenkreuzer durchsetzen sollte. Der Baum war lang und die Vorsegelfläche klein.

Dann setzte sich die moderne Marconi-Takelage mit einem dünnen, radioantennenartigen Mast durch. Das hatten die Segler dem italienischen Radio- und Funkpionier Guglielmo Marconi abgeguckt.

Später wurde die Segelgeometrie nochmals neueren Erkenntnissen angepasst. Der Mast wurde länger, der Großbaum kürzer. Das Vorstag wanderte etwas weiter nach oben am Mast und eine Idee auf dem Bug nach vorn. Die Fock wurde größer. Das fährt bei wenig Wind besser und der Bonus der von der Vorsegelflächenberechnung unberücksichtigten 15 Prozent wurde größer.

Als in den Dreißigerjahre die Genua erfunden wurde und sich rasch durchsetzte, wurde die neue Aufteilung der Segelfläche richtig interessant. Die Puppenstube mit dem halbrunden Kajütdach blieb natürlich. Das ist der Charme dieses kostbaren Schärenkreuzer Exemplars der ausklingenden 1910er Jahre. Der Zweiweltenkreuzer Gun blieb an Deck gemütlich und verkörperte zugleich seglerische Avantgarde. Der Wellenbrecher des sogenannten Mastgartens streckte die Kajüte optisch.

Die Hästholmsvarvet
Die Werft befand sich im heutigen Kvarnholmen im stadtnahen Stadteil Nacka von Stockholm und machte zunächst mit sogenannten Salonbooten, also Motoryachten von sich reden. 1910 gewann die 15 Meter lange Standart ein Langstreckenrennen um Südschweden von Nynäshamn nach Göteborg. Die Motorbootabteilung des KSSS hatte es ausgeschrieben. Im Oktober 1917 übersiedelte der Betrieb nach Gåshaga auf Lidingö im Nordosten der Stadt, wurde Gun unter der Führung Knut Ljungberg entstand. 1919 folgte der legendäre 150er Schärenkreuzer Singoalla. Die Werft bestand bis 1951, mit Knud Reimers als letztem Eigentümer.
Konstrukteur Erik Salander
Erik Salander (1883 – 1957) studierte an der Königlich Technischen Hochschule Stockholm und war einer der Väter der im Winter 1907/8 formulierten Schärenkreuzerregel. Im Februar 1908 zeichnete er mit Älfvan (deutsch Elfe) den ersten Schärenkreuzer überhaupt. Salander entwarf zahlreiche Schärenkreuzer, darunter 55er, 75er und 95er wie Kerma und Gerdny. Seine Zeichnungen sind im Sjöhistoriska Museet in Stockholm archiviert.
Segelflächen & Riggmaße
Nominelle Segelfläche laut Schärenkreuzer Regel: Großsegel ∆ + 85 % des Vorsegel ∆ | 75 m2 |
Großsegel | ≈ 45 m2 |
Fock | ≈ 30 m2 |
Genua I | ≈ 48 m2 |
Sturmfock | |
Spinnaker | |
P (Großsegel Vorliek) | |
E (Großsegel Fuß) | |
I (Höhe Vorsegel ∆) | |
T (Vorstag Länge) | |
J (Basis Vorsegel ∆) | 4,40 m |
Bootsdaten Gun
Konstruktion | Erik Salander |
Entwurf nach der 1916 erstmals überarbeiteten Schärenkreuzer-Regel von 1908 | |
Werft/Baujahr | Hästholmswerft in Gåshaga auf Lidingö bei Stockholm 1918 |
Segelnummer | S 1, SUI 1 |
Bauweise | Mahagoniplanken auf Eichenspanten |
Deck | Oregon Pine |
Länge | 16,60 m |
Länge Wasserlinie | 10,60 m |
Überhänge an Bug und Heck | 6 m, ≈ 1⁄3 |
Breite | 2,57 m |
Längen-/Breitenverhältnis | 6,5 : 1 |
Tiefgang | 1,90 m |
Verdrängung (gewogen, nicht geschätzt) | 6 t |
Ballast (Blei)/Ballastanteil | 2,45 t, ≈ 41 % |
Motor nachgerüstet | Nanni Diesel 15,4 kW, 30 PS mit Welle |
Karbonmast von Pauger Carbon Composites von 2022 | Mastlänge 19,40 m, Nettoröhrengewicht |
Literatur
- Per Thelander: Alla våra Skärgårdskryssare, Svenska Skärgårdskryssareförbundet (SSKF), Stockholm 1991, 160 Seiten (Schwedisch), antiquarisch, ISBN 91-970902-1-2, ↑ S. 125
- The world of Square Metres. The Square Metre Rule – 100 years. Facts, History and Reports from all over the Globe. Svenska Skärgårdskryssareförbundet (SSKF), Stockholm 2008, ISBN 978-91-633-3069-8 (Englisch)
- Website zum 75 m2 Schärenkreuzer Gun
Foto oben von Nico Krauss: Gun vor Konstanz. 27. April 25 aktualisiert. Abonnieren Sie den → Newsletter und verpassen Sie keine neuen Artikel.
→ Schärenkreuzer Länge, → Schärenkreuzer Breite, → Schärenkreuzer Segelfläche, → 30 m2 Schärenkreuzer Contra, → 30 m2 Schärenkreuzer Dreamtime, → 40 m2 Schärenkreuzer Aphrodite, → 55 m2 Schärenkreuzer von Håkan Södergren, → 75 m2 Schärenkreuzer Gustaf, → 150 m2 Schärenkreuzer Singoalla