
Starten
Über Platz-vulgo Regattareife, einen Frühstart, die Primatennummer oder den smarten Zug von links ins Renngeschehen. Über die Kunst überlegt reinzusegeln. Und über aussichtslos bis gelassenes Hinterherfahren im olympischen Loser-Spirit. Fünf Startvarianten, die sich immer wieder neu kombinieren lassen.
Starten ist so unbegreiflich wie Golfen. Mal klappts und mal nicht. Der Unterschied vom Segeln zum Golfen ist leider, dass sich der Golfer zunächst mit der sogenannten Platzreife zur Teilnahme an einem Turnier qualifizieren muss. Eine Regattareife gibt es leider nicht. Da kann jeder Bootseigner unsäglichen Mist bauen.
Sie können den Start einer Regatta lange üben, ihn zu einer gewissen Meisterschaft bringen und segeln dennoch eines Tages brutal hinterher. Keiner weiß, wann es passiert und warum. Es ist eben wie Golfen. Anscheinend hängt es vom Üben ab, anderen Blödmännern mit oder ohne Regattareife, der Crew, dem Karma, dem Wind, also irgendwie von allem. Fangen wir einfach mal vorn mit dem Frühstart an.
1. Der Frühstart
Gamle Swede mit der Segelnummer G 27, der klassische 55er Schärenkreuzer Sonja mit der Segelnummer S 22 und eine Flotte weiterer Schärenkreuzer sind zur Schlank und Rank Regatta im Fehmarnsund verabredet. Es ist ein sonniger Sommertag. Das ist schön. Weniger schön ist das leider laue Lüftchen. Denn bei zwei Windstärken ist die ähnlich lange, besser besegelte und leichtere Sonja kaum zu biegen. Auch andere gut gesegelte Schärenkreuzer werden uns heute ihr Heck zeigen.
Wir segeln die Startlinie entlang, wo sich die gefürchtete Sonja und die meisten anderen Schärenkreuzer schon mit raschelnden Tüchern in der sanften Brise aufgereiht haben. Neben Sonja öffnet sich eine Lücke. Die nehmen wir. Das Schätzen von Abstand und Geschwindigkeit zum pünktlichen Erscheinen an der Linie ist schwierig. In diesem Lüftchen spät ankommen und dann in der Abdeckung und den Turbulenzen der anderen verhungern wäre ätzend. Zu schnell reinrauschen und einen Frühstart hinlegen, wäre echt Essig.
„Erdmann: Dat wird so nüscht“ Segelfreund Uli

Ich möchte in Luv und eine Idee vor Sonja starten. Der langjährige Segelfreund Ulli Eichler aus Neubrandenburg ist ein besonnener und erfahrener Mann. Er war beinahe mal Spitzensegler der Deutschen Demokratischen Republik und ist tragende Säule des örtlichen Segelclubs. Er mahnt in mecklenburgischer Mundart. „Erdmann, Du bist zu schnell, dat wird so nüscht.“ Da ich auf Ulli immer höre, fieren wir die Segel. Ich falle ab, fahre zu Sonja runter, versuche Strecke und Zeit zu schinden.
Wie das erste Foto zeigt, starten wir wie gedacht vor Sonja und decken das eigentlich schnellere Boot. Ein laues Lüftchen, es läuft und die Jungs auf den schnittigen Planken nebenan sind restlos bedient. Der bayrische „Steuerberater“ Ulli Seer, eine erfahrene, vom Leichtwindrevier Chiemsee und seinem 30er Schärenkreuzer Dreamtime promovierte Regattafachkraft ist zufrieden.
Leider währt das Glück nur kurz. Wir haben anscheinend einen Frühstart hingelegt. Ich will es zunächst nicht wahrhaben und weiterfahren, bis es von nebenan reichlich genervt heißt: „Komm, Du auch!“ Sonja leitet den quälend langen Kringel um das Startschiff ein. Wir folgen, umkreisen das Startschiff und starten hinter Sonja neu. Alle anderen segeln legal weiter.

Das Foto zeigt die Kreuz zur ersten Wendemarke. Leider sieht die Begegnung durch das Teleobjektiv interessanter aus, als sie war. Sonja zieht mit sicherem Abstand souverän auf dem ausweichpflichtigen Steuerbord Bug vor uns vorbei. Die Kombination von Variante 1 und 4 wurde an diesem Tag zu Variante 5, saublödem Hinterhersegeln. In solch schwarzer Stunde zeigt sich der wahre Charakter und Takt von Segelfreunden. Sie gucken schweigend auf den Plichtboden und aufs Wasser. Sie werden meinen vergeigten Start später nicht kommentieren. Ich mache es mit diesem Artikel zehn Jahre später öffentlich.
2. Chaos mit Gebrüll
Bei dieser Variante versammeln sich alle Teilnehmer am rechten Ende der Startlinie und treiben weitgehend steuerlos auf dem bevorzugten Backbordbug und flatternden Segeln der Linie entgegen. Einige versuchen mit kurzem Dichtholen per Go-and-Stop eine gewisse Manövrierfähigkeit zu erhalten. Wäre dieses Get-together keine Regatta, hätte jeder die Fender draußen.
Die ersten Segler flippen aus. Der Ton wird roh und laut. Mancher zeigt hier sein wahres Antlitz. Diese Startvariante ist der Grund, warum Regatten gern von Primaten, Silberrücken und Männern gesegelt werden. Sie gründet lebenslange Feindschaft, dauerhaft betretenes Weggucken und Nichtgrüßen auch jenseits der Regattabahn. Ab vier Windstärken steigern der Lärm schlagender Segel und die Hektik den Adrenalinpegel.

Obwohl Chaos bekanntlich zufällig endet, kommen stets die Gleichen passabel aus der Chose raus. Andere ziehen hier sämtliche Arschkarten. Es gelingt Spezialisten, die Begrenzungsboje der Startlinie samt Ankerleine zwischen Kiel und Ruderblatt zu nehmen. Dann wird getaucht während die anderen davon segeln.
Der Spezialist startet irgendwann als Hinterhersegler in der schlimmsten, schlecht gelaunten Variante. Es wird die gesamte Regatta kein Wort miteinander gesprochen und in verschiedene Himmelsrichtungen geblickt, was dem weiteren Verlauf der Regatta nicht zuträglich ist. Die Chaosvariante liquidiert Freundschaften. Sie gibt Ehen den Rest.

3. Allein starten

Versammeln sich zu viele Teilnehmer mit der gleichen Idee auf Backbordbug am rechten Ende der Startlinie, sind Primaten oder Teilnehmer ohne Regattareife dabei, wird start links und idealerweise allein gestartet, wo Gamle Swede mit Höhe und Geschwindigkeit ihre Sache macht. Dieser kühne Solitär unter den Startvarianten sorgt für ausgezeichnete Stimmung an Bord. Und er ist Welten besser als frech hineinfahren, schwitzen, brüllen, zu früh über die Linie gehen und so weiter.
Liegt die Startlinie nicht genau rechtwinklig zum Wind und bevorzugt die linke Seite, klappt es ziemlich sicher. Ist das Boot schneller als die sonstige Flotte, gibt es keinen blöden Winddreher und geht dem Wind unterwegs nicht die Puste aus, geht es gut.
4. Überlegt reinsegeln

Wer die Chaosvariante kennt oder bereits die Brüller, Rempler und Teilnehmer ohne Regattareife kennt, nimmt Variante 4. So haben wir es bei der Schlank und Rank Regatta 2023 als längstes und schnelles Boot gemacht. Auch weil der besonnene Segelfreund Uli – „Erdmann, dat wird so nüscht“ – aus Neubrandenburg dabei war und Richard Natmeßnig.

Als ringsum gelassener Mensch verbringt Richard seine kostbare Freizeit ungern mit Primaten. Außerdem hatte ich ihm versprochen, den Gestaltungsspielraum zur friedlichen und seriösen Teilnahme zu nutzen. So steuere ich Gamle Swede etwa zehn Minuten vor dem Start Richtung Heiligenhafen, wende nach 4 1⁄2 Minuten in einem schön großen Bogen. Ich setzte das Backstag an und fahre bei etwa halbem Wind mit herrlichem Tempo auf die rechte Boje der Startlinie zu. Dort löst sich vor unseren Augen der Startlinien-Schlamassel der Chaosvariante auf und bietet eine schöne Lücke. Wir nehmen die Boje mit Schwung. Uli und Richard holen synchron zum Anluven dicht. Als größtes Exemplar der modernen Touren Schärenkreuzer ziehen wir bis zur erste Wendemarke an allen Teilnehmern vorbei.
Leider klingt es besser, als es ist. Denn es geht sekundengenau um die gesegelte Zeit, die mit dem Zeitfaktor der jeweiligen Yardstickzahl als Handicap berechnet wird. Das spricht eindeutig für pünktliches Erscheinen an der Startlinie. Wie das Foto zeigt, sind die meisten Teilnehmer bei unserer verspäteten Ankunft schon gut unterwegs. Wir haben also mindestens eine Minute plus einige Sekunden verschenkt. Uli meint, ich würde langsam vernünftiger. Richard erklärt nach der Regatta, es wäre ganz schön gewesen und er käme mal wieder mit.
5. Hinterhersegeln
Man kann sich aus Vorsicht oder guten Gründen wie dem Machtwort der Frau oder Rücksicht auf Segelfreunde dafür entscheiden. Die verspätete Variante ist bei fehlender Regattareife alternativlos. Wie gezeigt ergibt sich Hinterhersegeln aus vergeigten Startvarianten 1, 2 oder 4.

Segeln Sie Regatten
Ob Sie nun mit oder ohne Regattareife mitmischen, ob Sie über Par starten, chaotisch, planlos oder durchdacht. Ob Ihr Plan aufgeht oder nicht. Die Stunden auf dem Wasser sind intensiv. Und Sie lernen dabei sogar fürs sonstige Leben: dass man sich nicht auf eine Sonja fixieren und sein eigenes Ding machen sollte.
Spielt es eine Rolle, ob Sie abends bei der Preisverleihung mit anerkennenden oder tadelnden Worten des allwissenden, strengen und verbal ein klein wenig überpräsenten Sportwarts erwähnt werden? Auch ist völlig wurst, ob Sie noch eines dieser gravierten Gläser bekommen. Wie dieser Artikel und das abschließende Video von Segelfreund Vincent Volpe mit Blick auf den Zwölfer Anita zeigen, ist die Sache mit dem Start interessanter als Golfen.
Foto oben von Michael Amme: Start zur Schlank & Rank Regatta 2015. Dank auch an die Fotografen Nico Krauss, Wolf Hansen, Torsten Nitzsche. 30. April 25 aktualisiert. Abonnieren Sie den → kostenlosen Newsletter und verpassen keine neuen Artikel.
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